Einen Tag vor der Veranstaltung „Europäische Demokratie verteidigen“ kommt die WhatsApp-Anfrage: Kannst du morgen Abend moderieren? Klar, mach ich, das Thema Europa ist wichtig, unser Europakandidat Sergey Lagodinsky eingeladen, Rainder Steenblock, Ex-Minister und Ex-Europapolitischer Sprecher und Vorstands-Kollege, hat die Veranstaltung organisiert, überall im Bezirk wurde das Thema plakatiert.
In der Tat haben wir Zeiten, die beunruhigen, der Zulauf zu EU-Gegnern und Populisten ist ungebrochen, viele bezeichnen diese Wahl als Schicksalswahl. Was wird mit Frankreich passieren? Finnland scheint gerade noch mal gut gegangen zu sein, aber so viele Brennpunkte rings um uns herum!
Wie Rainder auch, ist Sergey Osteuropa-Experte und in Astrachan, Russland, geboren. Wo das liegt, musste ich erstmal googeln: in der Nähe des Kaspischen Meeres, an der Wolga (nördlich Baku, ist ja eher bekannt vom Eurovision Song Contest, Baku liegt allerdings schon in Aserbaidschan).
Seine Familie wanderte 1993 nach Deutschland aus, Sergey hat promoviert und ist Rechtsanwalt geworden. Jetzt arbeitet er als Leiter des Referats Europäische Union/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung, ist seit 2011 Mitglied bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und kandidiert auf Platz 12 der grünen Liste für Europa.
Sergey und Rainder sehen viele Probleme der EU begründet in ihrer Geschichte. Sie ist als Friedensprojekt entstanden, aber ökonomisch fundiert, es war immer eine Wirtschaftsunion.
Sergey fragt sich deshalb, wie wir heute Europa fit machen können gegen rechts. Wir haben lange gedacht, dass die demokratische Entwicklung ein linearer Prozess ist – das hat sich als falsch herausgestellt. Wir sind keine geborenen Demokraten. Überall werden alternative Angebote gemacht, in Russland, in der Türkei, in den USA. Es gibt neue Räume, wie das Internet, die die Demokratie gefährden. Wichtig, so Sergey, ist deshalb die europäische Demokratie-Kultur.
In Polen hat die PIS-Partei z.B. nur 30 Prozent Anhänger*innen gehabt – agiert aber wie eine Mehrheitspartei.
In den USA stellt Trump die demokratischen Regeln auf den Kopf, hält sich an keine zwischenmenschliche Vereinbarung, die wir für selbstverständliche Bestandteile unserer Kultur hielten. Menschen verlieren dadurch ihre Orientierung.
Darauf waren und sind wir nicht vorbereitet. Wir bräuchten einen Stresstest für Demokratie (vergleichbar mit dem für Banken).
Die EU kann Gesetze erlassen, die auf Landesebene nicht durchzusetzen sind. In Ungarn kommen z.B. Obdachlose ins Gefängnis. Wir sollten eine europäische Grundrechtsbeschwerde einführen. Die Finanzierung von NGOs sollte abgesichert werden. Zur Zeit entscheidet Orban, wer einen Verein gründen darf und wer nicht. Wir bräuchten ein europäisches Vereinsrecht.
Pluralismus der Medien ist auch in Deutschland nicht selbstverständlich. Auf Bundesebene schon, aber auf regionaler Ebene nicht unbedingt, so Sergey. Man muss sich fragen, nach welchen Richtlinien Gelder vergeben werden für öffentliche Werbung. Wer ist dafür zuständig, an wen wird das Geld verteilt?
In der Diskussion kamen wir immer wieder auf das Thema Digitalisierung – und werden versuchen, daraus eine Folgeveranstaltung zu machen. Sergey würde dazu gern nach Hamburg wiederkommen .
Vielen Menschen ist Europa auch zu abstrakt, wir sollten ganz konkret an europäische Erfolge erinnern. Z.B. das Verbot von Einweg-Plastik wie Wattestäbchen, Einwegbesteck oder Plastikbecher.
An die Friedensidee, zumindest der westlichen Partnerländer „Nie wieder Krieg“. Im Osten hieß es allerdings: „Nie wieder Imperialismus und Fremdherrschaft“. Was etwas anderes bedeutet.
Sergey appelliert daran, mit a l l e n ins Gespräch zu kommen. Nicht nur, um grüne Wähler*innen zu gewinnen, sondern um anderen Menschen, weit außerhalb der eigenen Blase zu zeigen, dass Grüne nette Menschen sind, mit denen man sich unterhalten kann.
Für alle Grünen war die Veranstaltung ein kleines Europa-Coaching für die Gespräche, die wir jetzt an den Ständen führen. Viel Information, lebendige Diskussion! Und tolle Vorbereitung von Rainder, der für Infomaterial und sogar für Kekse und Getränke gesorgt hatte.